Auch ein Paar Schuhe kann man nur kaufen, wenn man im Geschäft einen „Bezugsschein“ vorweist. Dieser muss bei der zuständigen Gemeindeverwaltung beantragt werden. Pro Person und Kalenderjahr hat man Anspruch auf ein Paar Winterschuhe und ein Paar Sommerschuhe, wenn ein tatsächlicher Bedarf nachgewiesen ist. Kinderschuhe aus Leder sind teuer, sie kosten zwischen 14 und 18 Reichsmark, was umgerechnet etwa 56 bis 72 Euro entspricht. Das kann sich nicht jeder leisten. Tauschbörsen für gebrauchte Kleidung und Schuhwerk entstehen.
Die hoch geschnürten Kinderschuhe Roderichs, die im letzten Jahr ihren Weg ins Regionalmuseum Wolfhager Land fanden, sind aus braunem Leder gefertigt und mit hellem „Drell“, einem festen, strapazierfähigen Gewebe aus Baumwolle, gefüttert. Das Leder ist an einigen Stellen stark abgewetzt. In die Sohle ist die Zahl „20“ gestanzt, die Schuhgröße. Die Absätze wirken klobig, stehen rundherum über und unterscheiden sich in Material und Farbe von der Originalbesohlung. Das Fabrikationswappen des Herstellers und die Ziffern „20-22“ lassen vermuten, dass sie nachträglich aufgenagelt wurden, als Reparaturmaßnahme.
Man sieht den Schuhen an, dass sie lange getragen wurden. Ihre Machart sagt uns, dass sie aus einer Zeit stammen, in der die Frage nach der „richtigen“ Marke unwichtig war.
Als während des britischen Luftangriffs auf Kassel im Jahre 1942 mehrere Wohnviertel in der Nähe des Stadtzentrums getroffen werden, wird auch das Nachbarhaus der Hüttichs im Kirchweg beschädigt. Aus Furcht vor weiteren Bombardierungen verlässt Frau Hüttich mit ihrem kleinen Sohn die Stadt und bringt sich bei Verwandten in Ippinghausen in Sicherheit. Dort lebt die Familie bis 1955. Dann zieht es sie nach Kassel zurück. Roderichs erste Schuhe werden aufbewahrt, als Andenken.
Inge Lötzerich, Nachbarin und Freundin seit Kindertagen, erinnert sich noch heute daran, als „Tante Liese“ ihr die „ersten Schuhchen vom Roderich“ für ihre eigenen Kinder schenkte. Das war 1961. Die harten Zeiten waren längst vorüber und junge Mütter hatten andere Vorstellungen von der modischen Ausstattung ihres Nachwuchses. Die Schuhe wanderten in eine Kiste auf dem Dachboden und kamen erst bei einer Aufräumaktion im vorigen Jahr wieder zum Vorschein. 70 Jahre alt, fanden sie den Weg ins Wolfhager Museum.
Annette Schaub-Böttcher
Die Fotografie zeigt Roderich als Zweijährigen mit seinen neuen Schuhen. Das weiße Hemdchen mit Rüschenkragen und die kurze, bunt gemusterte „Pumphose“ wurden vermutlich von der Mutter selbst genäht, aus einem abgelegten Kleid oder einer Bluse. Stoffe waren Mangelware. Modische Überlegungen wurden der Zweckmäßigkeit untergeordnet. Wer eine Nähmaschine besaß und sie bedienen konnte, hatte Glück.