Viele Handwerke haben sich zu Berufsvereinigungen zusammen geschlossen, den Innungen. Die Innungen kümmern sich um vielerlei Belange der einzelnen Handwerkszweige. Zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört heute sicher die Abnahme der Gesellen-Abschlussprüfungen. Doch auch die Traditionspflege wird ernst genommen: So leben bei manchen Abschlussfeiern althergebrachte Bräuche wieder auf, und die Fleischerinnung Hofgeismar-Wolfhagen besitzt noch eine Zunfttruhe von 1853. Die Mitgliedschaft in den heutigen Innungen ist freiwillig.
Vor Einführung der Gewerbefreiheit, in unserer Gegend ab 1869 mit Inkrafttreten einer neuen Gewerbeordnung, sah das alles noch ganz anders aus. Es war Pflicht für jeden, der einen Betrieb eröffnen wollte, Meister zu sein und Mitglied der entsprechenden Berufsvereinigung, der Zunft, Gilde oder Innung. Ausnahmen gab es. Die Befugnisse der Organisationen reichten weit, obwohl es im Lauf der Jahrhunderte an Versuchen des Staates nicht mangelte, ihren Handlungsspielraum und ihre Rechte einzuschränken.
Die Zünfte wachten nicht nur über die Ausbildung ihres Nachwuchses, sondern sie bestimmten beispielsweise auch, wer überhaupt in ihr Handwerk aufgenommen werden sollte oder wie viele Meister es geben durfte. Frauen durften beispielsweis nur als Witwe eines Meisters einen Betrieb führen. Die Vorschriften zielten nicht selten darauf ab, sich unliebsame Konkurrenz vom Hals zu halten. Doch verfolgten die Zünfte auch soziale Aufgaben. So unterstützen sie ihre Mitglieder bei Krankheit und kümmerten sich im Todesfall um die Beerdigung und die Hinterbliebenen.
Wichtige Dokumente wie Meister- und Protokollbücher oder staatliche Privilegien, die Zunftbücher, Geldvermögen und Siegelstempel, überhaupt möglichst alle Wertgegenstände der Zunft wurden in den Zunfttruhen oder –laden aufbewahrt. Darüber hinaus spielten diese Bewahrmöbel eine besondere Rolle bei Versammlungen und Amtshandlungen. Der offizielle Teil der Zunftsitzungen begann in der Regel mit dem Öffnen der Lade. Vor „geöffneter Lade“ wurden Lehrlinge freigesprochen, Gesellen zu Meistern gemacht, Streitigkeiten geschlichtet und vieles mehr.
Unser Exemplar gehörte ursprünglich der Wolfhager Schneiderzunft. Die Truhe ist aus unterschiedlichen Hölzern gefertigt und mit Leisten verziert. Sie hat innen links eine Beilade mit Deckel, deren Geheimnis sich erst bei genauerer Betrachtung erschließt: ein Geheimfach! Man kann es öffnen, indem man die vordere Wand der Beilade nach oben zieht.
Die Truhe ist mit Buntpapier ausgeschlagen. Es handelt sich um ein typisches "Türkisches Papier" bzw. "Türkisches Tunkpapier". Die Technik der "Türkischen Papiere" ist eine Tunktechnik von schwimmenden Farben. Besonders beliebt waren Marmorierungen wie sie unsere Truhe zeigt. Auf Grund der Beschaffenheit des Papiers, es ist eher dick und etwas unregelmäßig, lässt es sich laut Auskunft von Frau Prof. Dr. Sabine Thümmler vom Kunstgewerbemuseum Berlin, noch ins 18. Jahrhundert datieren. Diese Auskunft wird durch die Bauart der Truhe betätigt.
Die Existenz der Truhe im Museum weist zusammen mit weiteren Exponaten der Schneiderzunft jedenfalls auf die ehemalige Bedeutung dieses Handwerks für Wolfhagen hin. So gab es Mitte des 19. Jahrhunderts zwischen 36 und 38 Schneider allein in der Stadt, heute sind es 40 Schneiderinnen im gesamten Landkreis Kassel.
Beate Bickel