Mitte des 16. Jahrhunderts schrieb der Wolfhager Bürger Hans Staden die Warhaftige Historia und beschreibung eyner Landtschafft der Wilden / Nacketen /Grimmigen Menschenfresser Leuthen / in der Neuwen Welt America gelegen... Darin berichtete er über seine zwei Reisen nach Brasilien und seine Erlebnisse während seines siebenjährigen Aufenthaltes in Südamerika. Darüber hinaus lieferte er eine detaillierte Beschreibung des Stammes der Tupinambá, als deren Gefangener er gelebt hatte. Im Regionalmuseum in Wolfhagen findet der Besucher außer Literatur (u. a. eine empfehlenswerte Ausgabe zum Vorlesen für Kinder) auch einen Hans-Staden-Ausstellungsraum.
Hans Staden kannte Martin Luthers Lehrstücke und konnte sie deutend in seiner Notlage nutzen.
Der erste Tag war der Einführung gewidmet. Wolfgang Schiffner aus Wolfhagen erläuterte die historischen Bedingungen in Hessen im 16.Jahrhundert, die dazu beitrugen, dass Staden Büchsenschütze wurde und nach Brasilien wollte. Franz Obermeier aus Kiel skizzierte die Entwicklung der brasilianischen Kolonie seit 1500. Er machte deutlich, dass um 1550 die Portugiesen das riesige Küstengebiet erst an zwei Stellen zu entwickeln begannen. Beide besuchte Staden, und deshalb muss sein Werk im Kontext dieser Zeit verstanden werden.
Ein Höhepunkt der Tagung war offensichtlich für viele Teilnehmer der Beitrag von Dr. Uwe Schäfer über reformatorische Aspekte des Stadenberichts. Er zeigte durch die Gegenüberstellung von Luther- und Stadenzitaten, dass Hans Staden offensichtlich die religiösen Volksschriften Martin Luthers kannte. In seiner Gefangenschaft stützte sich Staden auf diese Texte und deutete sie entsprechend für seine persönliche Situation. Dr. Schäfer stellte Stadens Bericht als Konversionserzählung dar, wie wir sie von Apostel Paulus kennen: Vor und auf der Überfahrt hat Staden noch bekannte Gebete im Kollektiv gebetet. In großer Angst dann wird aus dem kollektiven Gebet wird ein persönliches: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ und „ich fing an zu singen“. Schließlich kommt er zu der Selbsterkenntnis, dass sein Schicksal eine Gottesgabe ist. Ein bekanntes Phänomen: Gott kann sich nur im Fremden zeigen. Nur wenn der Mensch nicht versteht oder in Not ist, ist er offen für Gotteserfahrungen.
Staden wird während seiner Gefangenschaft bei einem Tupi-Indianerstamm zum Glaubensvorbild.
Schäfer arbeitete die häufigen Gebetszusammenhänge in der «Wahrhaftigen Historia» unter Bezugnahme auf die damalige Erbauungsliteratur als besondere Form einer Luther-Rezeption heraus. Diese weisen nach seiner Ansicht das Buch von Hans Staden als ein Beispiel volkstümlicher Glaubensvermittlung der Reformationszeit aus. So kommt beispielsweise erst in der Reformationszeit das individuelle Gebet auf, mit Luthers Betbüchlein. Vorher hatten die Christen in Gebetsbüchern vorformulierte Gebete gesprochen. Zurück bleibt die Frage, auf welche Ressourcen ein moderner Mensch zurückgreifen kann, der keine religiösen Kenntnisse und Deutungsmöglichkeiten mehr hat.
Die Holzschnitte, die Stadens Erzählung beigefügt sind, sind ethnologisch korrekt.
Alexandre E. Mendes, der seine Masterarbeit an der Universität Düsseldorf über Hans Staden geschreiben hat, analysierte die Holzschnitte, die Teil des Reiseberichtes sind. Sie stellen den Kannibalismus aus europäischer und aus indigener Sicht dar, sie sind ethnologisch korrekt – außergewöhnlich für die damalige Zeit – und zeigen einen enormen Detailreichtum. Es gibt narrative Bilder, die die Erzählung unterstützen und deskriptive, die die Besonderheit der Indianer darstellen. Sie vermitteln die Botschaft: Gott bestraft Feinde und greift ein. Auf den geografischen Karten tauchen die Namen der Stämme auf, nicht die Namen der europäischen Eroberer. Staden zeigt, das Land gehört den Indianern.
In einer Darstellung der Neuveröffentlichungen zum Thema wurde Sabrina Korf genannt. Sie beschreibt in einer Examensarbeit die Eurozentriertheit der Wahrnehmungsmuster. Das Fremde bei Staden wird immer aus persönlichem Blickwinkel gesehen. Die Indianer sind die tyrannischen Wilden, die Christen stehen auf der anderen Seite. H. Staden hat einen detailfreudigen Blick, aber er zeigt nicht wirklich ein „Verstehen“. Wenn man mit diesem Hintergrund liest, lässt sich der eigene Denkhorizont objektivieren. Mit den „captivity narratives“ haben wir eine literarische Gattung, die auch heute sehr aktuell ist.
Indigene, die in ihren Lebensräumen bleiben, haben eine kollektive Identität, die zu Nachhaltigkeit und Bevölkerungswachstum führt.
Dr. Gawora, Soziologe aus Kassel, beschrieb das Problem der Wahrnehmung der Anderen durch die Kolonialbrille. Die Indigenen sollten leben wie die Europäer, aber auf der sozial untersten Stufe, sie sollten ihre eigenen Sprachen und Traditionen aufgeben. Erst 1989 gab es eine internationale Konvention, die die Eigentums- und Besitzrechte sichern.
Indigene, die in ihren Lebensräumen bleiben und sie nach ihren Traditionen bewirtschaften haben eine kollektive Identität. Ihr Bewirtschaften ist nachhaltig. Sie haben im Kontext ihrer Wissenschaft geschlossene Systeme entwickelt, die die Natur nicht zum Objekt machen. Sie sind keine Naturschützer, denn diese sollen die zerstörte Natur schützen.
In der Moderne werden diese Kultivierer vertrieben, in Städte umgesiedelt und durch moderne Naturschützer ersetzt. Die Nichtwahrnehmung der anderen und die selektive Rezeption heute war bei Staden noch anders. Er hat die Indigenen akzeptiert, wie sie sind.
Die Hälfte der Indigenen lebt heute in ihren Gebieten, dort gibt es wieder Bevölkerungswachstum, eine umgekehrte Demographie. Es gab auch einmal Gebärverweigerung, als sie für ihre Kinder keine Zukunft mehr sahen. Nicht kontaktierte Indigene haben meist Bevölkerungswachstum, wenn es auch sehr kleine Gruppen gibt, die vom Aussterben bedroht sind.
Die Fachtagung des Regionalmuseums – eine gelungene Veranstaltung
Die Tagung war von einer Arbeitsgruppe des Regionalmuseums sowohl inhaltlich als auch organisatorisch hervorragend vorbereitet worden. Der Grillabend, den der Wolfhager Geschichtsverein bei bestem Wetter anbot, gab weitere Gelegenheit zum Gespräch. So verließen die Teilnehmer am Samstagnachmittag erfüllt und gut gestimmt das Gemeindezentrum, das Versprechen des Homberger Bürgermeisters im Gedächtnis, in zwei Jahren die nächste Stadentagung in Homberg anzubieten. Homberg/Efze ist der Geburtsort Hand Stadens. Allen Beteiligten sei Respekt gezollt für ihr Engagement!
Das Team vom Regionalmuseum Wolfhager Land bedankt sich bei allen Referenten für die überaus interessanten und anregenden Vorträge. Besonders auflockernd waren die Beiträge der SchülerInnen der Wilhelm-Filchner-Schule, Aufschlussreich der Film über die Aktivitäten der Theodor-Heuss-Schule in Homberg. Finanziell unterstützt wurde die Veranstaltung von der Kulturstiftung des Landkreises Kassel, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, der Kasseler Sparkasse und der Stadt Wolfhagen. Auch dafür herzlichen Dank!